Eine undurchsichtige Haltung

HannaNym
7 min readMay 24, 2022

Vor knapp zwei Jahren habe ich Einsicht in die Stasi-Akte meines Vaters beantragt. Vor einigen Tagen kamen die Unterlagen bei mir an. Die ganze Geschichte:

Unverhältnismäßig lange Einleitung

Als ich 14 war, nahm sich mein Vater das Leben. Ich bin mehr oder weniger in einem Haushalt mit ihm aufgewachsen und hatte ihn bis dahin fast jeden Tag gesehen. Er nahm sich Zeit für meinen Bruder und mich und uns ernst. Brachte uns Sachen bei, redete mit uns. War dabei oft auch sarkastisch oder zynisch, versteckte nicht seinen manchmal dunklen Humor. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er Themen ausklammerte, weil er sie nicht kindgerecht fand. Ich kann mich aber auch nicht daran erinnern, dass mich seine Art überforderte.

Mein Vater war psychisch krank. Meiner Erinnerung nach kamen seine Depressionen in Wellen, die zum Ende immer länger anhielten. Ich sah, wie ihm sein Leben mehr und mehr entglitt. Rechnungen wurden nicht bezahlt und das Auto nicht in die Werkstatt gebracht, seine Räume wurden noch unordentlicher, er duschte nicht mehr, irgendwann blieben seine Kunden weg und er im Bett. Er wusste, dass er krank war und verweigerte die Behandlung. Dies war der Punkt, der mich überforderte. Ehrlich gesagt sogar mehr, als sein Ende.

Alles ist über 20 Jahre her. Meine Erinnerungen an ihn erscheinen mir mittlerweile unzuverlässig. Aufgrund des zeitlichen Abstands und aufgrund meiner damaligen Perspektive. Als Kind und Jugendliche hört man andere Sachen und ordnet sie anders ein. Dazu kommt, dass uns einfach die Zeit gefehlt hat. Ich habe meinen Vater als Vater kennengelernt, dann als Kranken. Ich weiß wenig über den Menschen, der er darüber hinaus war. Was war das Familienleben seiner Kindheit, was hat er als Student erlebt. Warum hatte er so lange Zeit keinen Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie und woran sind seine Ehen gescheitert? Mit 20 oder 35 Jahren würde ich mit ihm andere Themen haben, ihm andere Fragen stellen, als mit 8 oder 14. Aber das ist nicht möglich.

Ich versuche, mehr über ihn herauszubekommen. Eine Quelle ist meine Mutter, die aber auch erstaunlich wenig darüber weiß, wer er war, bevor er sie traf. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon fast 40 Jahre gelebt. Seine Schwestern wiederum können theoretisch die ersten 20 Jahre abdecken. Da er aber kaum Kontakt zu seiner Familie hatte, kenne ich sie auch nur oberflächlich. Ich habe versucht, sie zu befragen. Aber es fühlt sich an, als würde ich mich in die Angelegenheiten einer fremden Familie einmischen. Und ich möchte auch nicht, dass sie das Gefühl haben, ich würde sie nur treffen, um Informationen abzuschöpfen. Ich suche nach Wegen, an Informationen zu gelangen, ohne andere Menschen zu benutzen. Seine Stasi-Akte zu beantragen war einer dieser Wege.

Die Akte beantragen

Für Leute, die sich mit dem Thema Stasi-Akten bereits beschäftigt haben, ist dieser Abschnitt zu einfach. Mir haben allerdings in den letzten Tagen verschiedene Menschen Fragen gestellt, die zeigten, dass vieles, was für mich unter „allgemein bekannt“ läuft, nicht überall allgemein bekannt ist.

Grundsätzlich ist es so gedacht, dass Menschen jeweils ihre eigene Stasi-Akte beantragen sollen. Das Angebot richtet sich vor allem an unmittelbar Betroffene. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die Akten enger Angehöriger, die verstorben oder vermisst sind, zu beantragen. Dazu schreibt das Stasi-Unterlagen-Archiv:

Die genannten nahen Angehörigen müssen ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen und schlüssig darlegen, dass sie mit Hilfe eventuell vorhandener Stasi-Unterlagen im Zusammenhang mit dem DDR-Regime stehende Ereignisse oder staatliche Maßnahmen aufarbeiten möchten.

Ich würde sagen, dass das Glaubhaft-machen recht niedrigschwellig ist. In Online-Foren schreiben Leute, dass sie einfach „Interesse an ihrer Familiengeschichte“ angaben. Was in etwas das ist, was auch ich geschrieben habe.

Es ist längst nicht so, dass es über jeden ehemaligen DDR-Bürger eine Akte gibt. Die Dokumente, die zu meinem Vater gefunden wurden, beziehen sich alleine auf eine Entwicklung in den Jahren 1988 und 1989. Davor war er entweder unauffällig oder aber die Unterlagen gingen verloren. Beziehungsweise: wurden vernichtet, wie es gerade zur Wendezeit oft vorkam. Im Schreiben des Stasi-Unterlagen-Archivs, das mit den Dokumenten kam, wird allerdings erwähnt, dass die Stasi-Akten mittlerweile gut erschlossen sind und es daher unwahrscheinlich ist, zu einer Person jetzt noch Dokumente zu finden, die nicht bereits bekannt sind. Übrigens wurden so gut wie nie Akten über Minderjährige geführt. Wer nach 1972 geboren wurde, taucht maximal dann in den Akten auf, wenn seine:ihre ganze Familie beobachtet wurde. Daher gibt es mit großer Sicherheit auch keine Akte zu mir.

Damit mögliche Akten zu meinem Vater gefunden werden können, braucht es seine Wohnanschriften. Leider zog er oft um und ich glaube nicht, dass meine Adressliste am Ende vollständig war. Meine Mutter hat mir ein wildes Bündel an Dokumenten eingescannt und gemailt. Darunter: Zeugnisse, Scheidungsurkunden, das Dokument, auf dem er anerkennt, dass er mein Vater ist. Als ich zur Welt kam, war er formal noch mit einer anderen Frau als meiner Mutter verheiratet. Das wusste ich bis dahin nicht. Was ich dagegen wusste: dass er chaotisch war. Und zu viel rauchte. Wie es sein Praktikumsbetreuer bereits Mitte der 1960er Jahre dokumentiert hatte.

Ein paar Monate, nachdem ich den Antrag eingereicht habe, bekomme ich ein Schreiben, welches mir bestätigt, dass mein Vater durch die Stasi „erfasst“ worden ist. Nach nicht einmal zwei Jahren bekomme ich Kopien der Dokumente geschickt, normal sind wohl Wartezeiten von zwei bis drei Jahren. Bei weniger umfangreichen Akten ist das so üblich. Wenn es zu einer Person viel gibt, kann sie direkt im Berliner Archiv beziehungsweise in einer der Zweigstellen eingesehen werden.

Vielleicht ist die Wahrnehmung subjektiv, aber wenn öffentlich von Stasi-Akten gesprochen wird, scheinen sie vor allem im Zusammenhang mit Dissidenten und unauffälligen Bürgerinnen zu stehen, die vom Regime ausspioniert wurde. Das ist ungefähr die halbe Wahrheit. Stasi-Akten liegen beispielsweise auch zu Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) vor. Die wiederum wurden ebenfalls beobachtet, ihre Äußerungen und politischen Einstellungen dokumentiert — so wie im Fall meines Vaters.

Was steht drin

In der Akte meines Vaters: nichts Spannendes. Dass er eventuell IM war, hatte ich bereits von Familienmitgliedern gehört — aber die konnten nur mutmaßen. Ich will es nicht beschönigen oder verharmlosen, aber laut ihren Aussagen hatte sein Kontakt mit der Stasi mit seinem Beruf zu tun. Vorfälle in einem landwirtschaftlichen Arbeitsbereich, die dazu führten, dass unverhältnismäßig viel Vieh einging.

Seine Akte dreht sich um das Anwerbeverfahren. Auf rund 20 Seiten wird beschrieben, wie er der Stasi im Rahmen einer Operativen Personenkontrolle auffiel. „Operative Personenkontrolle“ heißt, er erschien verdächtig oder hatte Kontakt zu verdächtigen Personen — die Stasi holte daraufhin Informationen über ihn ein. In der Akte liest sich der einzige nicht geschwärzte Satz hierzu folgendermaßen:

Zum Zeitpunkt des Anlegens war bekannt, daß der genannte Personenkreis, der überwiegend den Kreisen der Intelligenz angehört, untereinander in Verbindung steht. Die Personen nahmen eine undurchsichtige Haltung zur Politik unseres Staates ein.

Anschließend wurde er kurzzeitig beobachtet und (scheinbar) ohne viel Druck zur Mitarbeit überredet. Die Stasi-Mitarbeiter sprachen ihn vor einer Kaufhalle an und besuchten ihn mehrmals nach Vereinbarung zuhause, um die Zusammenarbeit zu besprechen. Die meisten Sätze in der Akte handeln von den räumlichen und zeitlichen Umständen der Treffen und nur abstrakt von den konkreten Gesprächsinhalten. Die Stasi-Mitarbeiter beschreiben ihn gleichzeitig als kooperativ — er war bereit, mit ihnen zu sprechen, „die Vorfälle“, um die es ging, aufzuklären, diskret zu sein — und undurchsichtig. Wortwörtlich:

Zur politischen Einstellung ist zu sagen, dass er sich weigert, zu aktuell-politischen Tagesfragen Stellung zu nehmen, so daß er in dieser Hinsicht als undurchsichtig eingeschätzt wird.

Die ersten Seiten sind aus dem Frühjahr 1988. Als mein Vater die Erklärung unterschreibt, die ihn zum IM macht, ist es bereits August 1989. Als Decknamen wählt er den Vornamen eines sehr anstrengenden Menschen aus seinem Bekanntenkreis — meine Mutter muss lachen, als ich ihr davon erzähle. Und sagt dann nachdenklich: „Dann war er also doch noch IM. So kurz vor Schluss.“. 1989 waren beide noch zusammen, trotzdem wusste sie nichts Eindeutiges von seiner Tätigkeit. Die Einverständniserklärung ist das letzte Schreiben in der Akte. Kurz darauf hatte die Stasi andere Sorgen.

Lohnt es sich

Ich würde es wieder machen. Der zeitliche Aufwand ist überschaubar und wenn man schon mal eine Einkommensteuererklärung gemacht hat, kommt man auch mit den Formularen des Stasi-Unterlagen-Archivs zurecht. Allerdings bin ich selbst auch nicht direkt betroffen und hab auch in Bezug auf meinen Vater keine schlimmen Überraschungen befürchtet. Meine Mutter wiederum wollte ihre eigene Akte früher nicht sehen — aus Angst davor, trotz Schwärzungen und Decknamen nachvollziehen zu können, wer über sie berichtet hatte. So wie es einer Frau aus ihrem Freundeskreis passiert ist. Wenn du feststellst, dass es der Nachbar war, der ein Jahrzehnt lang fast jeden Tag zu Besuch kam, ist das kein gutes Gefühl. Mittlerweile hat sie sich umentschieden. Auch ist die Wahrscheinlichkeit nicht allzu hoch, dass es etwas über sie gibt. Sie war weder in subversiven Kreisen unterwegs noch hat man sich um sie als IM bemüht.

Gelohnt hat es sich für meine “wissenschaftliche” Neugier. Meine Mutter und ihre Freunde sind alle ehemalige DDR-Bürger in ihren 60ern und wenn ich sie sehe, stelle ich ihnen oft beliebige Fragen, etwa ob es im Osten Hausbesetzer gab oder wie die Uni-Seminare hießen, die sie besuchten. Für sie ist vieles so gewöhnlich, dass sie selten von sich aus darüber sprechen. Ich möchte möglichst viel und möglichst Alltägliches wissen, so lange der zeitliche Abstand nicht zu groß und die Köpfe noch klar sind. Die Rolle der Stasi in ihren Leben gehört dazu. Ich möchte verhindern, dass sich unser DDR-Bild irgendwann allein aus Jahrestagen und Florian-Henckel-von-Donnersmarck-Filmen zusammensetzt.

Kleiner Nachtrag: Ich habe Sorge, dass sich der Text etwas zu oberflächlich liest und den Eindruck erwecken könnte, ich würde die Rolle der Stasi in der DDR bagatellisieren. Das ist nicht meine Absicht. Mir geht es vor allem darum, meinen Antrag auf Akteneinsicht zu beschreiben. Hoheneck, Bautzen, jahrzehntelange Überwachung, Kontrolle und Erpressung kommen in dieser subjektiven, privaten Geschichte nicht vor, dürfen aber auch nicht vergessen werden.

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